Die 100-Prozent-Falle
Die 100-Prozent-Falle
Schauen wir auf die Beschäftigten in einem Unternehmen. Auf der einen Seite gibt es Kollegen, die sind sehr motiviert, bringen mehr Leistung als der Durchschnitt und verhalten sich darüber hinaus kollegial, hilfsbereit, denken mit usw. Kein Zweifel, solche Mitarbeiter wünscht sich jede Führungskraft. Nun sind wir jedoch alle Realisten genug, um zu wissen, dass diese Spezies rar gesät ist.
Stattdessen gibt es die andere Seite: Kollegen, die sich am unteren Rand des Leistungs-bereiches aufhalten. Sie machen oft nur das Notwendigste, nicht nur im Bezug zur direkten Leistung, sondern auch im Hinblick auf ihre sonstige Performance. Es gibt das Sprichwort: „Sich Dummstellen schafft Freizeit“. (Anmerkung: Hier allerdings während der Arbeit)
Führungskräfte sagen dann oft, dass diese Personen mehr könnten, ohne dass sie im arbeitsrechtlichen Sinne direkt zu belangen wären. Wir haben somit beide Extreme der Normal-Verteilung beschrieben. Die Differenz dazwischen beträgt gern bis zu 100 Prozent, eben die „100-Prozent-Falle“.
Ich weiß nicht, ob dieser Sachverhalt direkt wissenschaftlich erforscht wurde, auf jeden Fall haben mich hunderte von basisnahen Führungskräften in Seminaren in dieser Ein-schätzung bestätigt. Oft gibt es hinsichtlich des Verhaltens von Mitarbeitern eine Vor-geschichte. Vielleicht leiden sie unter einem autoritären Führungsstil, vielleicht gibt es andere Beeinträchtigungen, gegen die sie sich nur indirekt wehren können. Man spricht auch von Guerilla-Taktik oder schlicht „Rache“.
Spricht eine Führungskraft Leistungs- und Verhaltens-Defizite an, dann gibt es oft nur Schulterzucken oder es wird abgewiegelt. Aussagen wie: „Hat mir keiner gesagt…, stimmt doch gar nicht…“ etc. sind symptomatisch für solche Situationen. Nicht verwunderlich, dass derartige Unternehmen z. B. auch kaum Verbesserungsvorschläge von Mitarbeitern bekommen.
Mitdenken, Kreativität oder Hilfsbereitschaft kann ich eben schwerlich befehlen.
Auf den Punkt gebracht lautet die Frage, ob die Mitarbeiter ihre Intelligenz und Fähigkeiten in den Dienst des Unternehmens stellen oder ob sie diese dazu nutzen, „sich einzuigeln“ und unangreifbar zu machen. Zusätzlich kompliziert wird es, wenn sehr gute Mitarbeiter feststellen, dass sie die Schwächeren mitziehen müssen, möglicherweise die gleiche Entlohnung erhalten, etc. Negative Effekte können sich so verstärken.
Das betriebswirtschaftliche Potenzial indes ist sehr groß. Stellen Sie sich vor, Sie würden den durchschnittlichen Leistungsgrad und die entsprechenden Verhaltensweisen um 10 Punkte verbessern können. Bei zweihundert Basismitarbeitern kommt ein nettes Volumen zusammen.
Was ist zu tun?
Der Dreh- und Angelpunkt sind die Führungskräfte. Sie gestalten in maßgeblicher Weise eine Kultur der Zusammenarbeit, der Motivation und Leistungsbereitschaft. Zunächst ist es notwendig, sich die oben beschriebenen Sachverhalte klarzumachen und gegebenenfalls den Blick für die unterschiedlichen Leistungsgrade zu schärfen. Danach gibt es eine breite Palette von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation. Die Führungskraft muss für sich eine Entscheidung treffen. Auf der einen Seite geht es um die Erschließung eines erheblichen Potenzials, auf der anderen Seite ist es ein evtl. zeitlich aufwendiges Unterfangen, zumal schnelle Erfolge nicht zu erwarten sind:
Es geht um den zumeist unspektakulären Führungsalltag, um Einzelgespräche zur Überprüfung der Wahrnehmungen, um das Erfahren von möglichen Hintergründen, um das Herausstellen von besonderen Leistungen. Weitere probate Maßnahmen reichen von Führungsschulungen bis hin zu aktivierenden Mitarbeiter- und Team-Workshops.
Da es sich um unternehmenskulturrelevante Wirkmechanismen handelt, ist zu empfehlen, die Thematik im Kreise der Führungskräfte zu diskutieren. Eine einzelne Führungskraft kann meist wenig ausrichten, wenn es leistungshemmende kulturelle Aspekte zu verändern gilt.
Gerald Doose